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Kettly Mars: Ich bin am Leben

Alexandre ist schizophren und lebt seit 40 Jahren in der Psychiatrie, als im Januar 2010 ein Erdbeben Haiti verwüstet. Notgedrungen wird er, als die Schließung der Anstalt notwendig ist, wieder von seiner Familie aufgenommen. Ein Bungalow auf dem Anwesen der großbürgerlichen Berniers wird seine neue Unterkunft. Wortlos seinen Bungalow umrundend verbringt er dort seine Tage, misstrauisch und neugierig beäugt von den anderen Bewohnern. Dieses plötzlich erzwungene Zusammenleben mit dem Kranken ruft ängstlich gehütete Erinnerungen hervor. Eliane, die 80-jährige Hausherrin und Mutter, die die enge Bindung Alexandres an seine jüngere Schwester früher immer argwöhnisch beäugt hatte; Marylene, die Schwester, nach vierzig Jahren in Belgien lebend wieder heimgekehrt, sie alle müssen sich nun wohl oder übel mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Von dem mittlerweile verstorbenen Vater Francis vergöttert, schien die Zukunft Alexandres gesichert. Doch als die Krankheit im Teenageralter ausbricht, herrscht die Diktatur der Duvaliers. Immer wieder rebelliert Alexandre, wird verhaftet, misshandelt und letztlich in die Psychiatrie abgeschoben. Ob zu seinem Schutz oder dem seiner Familie, dieses Urteil bleibt dem Leser überlassen.

Das Leben unter dem Regime der Duvaliers mit seiner gefürchteten Geheimpolizei findet seinen Widerhall in der nahezu hermetischen Atmosphäre auf dem Anwesen: das jahrzehntealte Rede- und Denkverbot findet seine Verlängerung in dem Schweigen der Familie und es bedarf des schwersten Bebens Haitis um diese Verkrustungen aufzubrechen.

Bei aller Dramatik der Ereignisse ist dies ein leises Buch. Ein schmaler Band mit einem langen Nachhall. Für mich herausragende Literatur und wenn es mal ein bisschen gerecht auf der Welt zugehen würde, hätte es sehr, sehr viele Leser!

 

Empfohlen von Kirsten Willeken

Kettly Mars: Ich bin am Leben

128 Seiten, ISBN: 978-3-940435-17-0, 12,90€, Litradukt Verlag

Erschienen am 12. Oktober 2015