Empfehlungen

Fatma Aydemir: Dschinns

»Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.«

Wer wie ich Familienromane liebt, wird von Fatma Aydemirs »Dschinns«, einem Text von außerordentlicher Intensität, begeistert sein: 30 Jahre hat Familienvater Hüseyin in Deutschland gearbeitet, um sich mit Beginn der Rente eine Eigentumswohnung in Istanbul leisten zu können. Doch kaum hat er die Wohnung bezogen, verstirbt er an einem Herzinfarkt. Zur Beerdigung nach islamischen Ritus reisen seine Frau und Kinder aus Deutschland an und bringen ihre ganz persönlichen Geheimnisse mit:

»Und wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns. […] Antworten gab es eben in dieser Familie kaum, alle erzählten immer nur dieselben Geschichten, die ihnen nicht wehtaten, sie klangen jedes Mal ein bisschen anders, manchmal kamen neue Details hinzu, harmlose Kleinigkeiten, die immer mehr verbargen, als dass sie irgendetwas erklärten. Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?«

»Dschinns« ist ein überaus lesenwerter Roman, in dem Fatma Aydemir sehr intelligent die Kategorien Identität und Herkunft beleuchtet. Nie verliert sie das Epische aus den Augen, wenn sie race, class und gender auf dem Höhepunkt des Diskurses entfaltet. Ein Highlight im Frühjahr 2022!

Empfohlen von Markus Felsmann

Fatma Aydemir: Dschinns

368 Seiten, ISBN 978-3-446-26914-9, Hanser, 24,00€

Erschienen: 14.02.2022